Klezmer

Klezmer-Musik

Dieses Kapitel beginnt mit einer Erklärung der Begriffe „Klezmer“ und „klezmorim“ und mit Erläuterungen zu ihrer Musik.
Wollen Sie sich gleich über die Geschichte der Diaspora informieren? Oder über die Wanderungen jüdischer Spielleute im Mittelalter?
Oder wollen Sie wissen, wie Klezmermusik zu uns nach Wien kam? Abschließend finden Sie auch etwas zur Theorie der Klezmermusik. Details dazu sind auf der englischen Seite „Klezmer music“ gespeichert. Clicken Sie bitte auf „English“.

Das Wort Klezmer setzt sich aus den hebräischen Worten „kli“, das Gefäß, und „zemer“, das Lied, zusammen. Ein „Kle-zmer“ ist also bildlich ein „Gefäß der Lieder“. „klezmorim“ nannte man die jüdischen Musiker der Neuzeit.
Das Leben in einem „shtetl“ Osteuropas – so nannte man die typischen kleinen jüdischen Ortschaften, oder auch die überwiegend von Juden bewohnten Stadtviertel in größeren Ansiedlungen – war von weit in der Vergangenheit zurückliegenden Traditionen geprägt. Die jüdischen Feiertage und Familienfeste, vor allem Hochzeiten, bildeten die Höhepunkte im sonst eher gemächlich dahinfließenden Jahreslauf.

Musik war von Anbeginn wichtiger Bestandteil jüdischer Kultur. Die Lesung aus den Heiligen Schriften und das Gebet wurden gesungen. Diese Liturgie folgte strengen Regeln. Die weltliche Musik der klezmorim stand in enger Verbindung sowohl mit diesem liturgischen Gesang, als auch mit den Traditionen der Volksmusik ihrer nicht-jüdischen Nachbarn. Klezmorim waren zwar wenig angesehen, aber hatten dennoch eine wichtige kulturelle und soziale Aufgabe. Eine Klezmer-Kapelye für die Hochzeit seiner Tochter zu engagieren, war ein Muss für einen begüterten jüdischen Vater. Wer sich das nicht leisten konnte, der holte zumindest einen Fiedler zur musikalischen Begleitung der einzelnen Teile des Hochzeitsrituals, und um danach seinen Gästen zum Tanz aufspielen zu lassen. Klezmorin wanderten in kleineren Gruppen von Ort zu Ort, auf der Suche nach neuen Aufträgen oder vielleicht sogar einem Engagement bei reichen Bürgern oder am Hof eines Land-Adeligen.

Auf ihrem Weg übernachteten die schlecht bezahlten klezmorim in einfachen Herbergen oder unter freiem Himmel. Hier traf man sich mit Ortsansässigen, mit fahrendem Volk und häufig auch mit Musikern anderer Ethnien, die vielleicht auch gerade auf dem Weg zur einer Hochzeit ihrer Landsleute waren. Wieso konnte sich die jüdische Musik in diesem Szenario über viele Jahrhunderte hinweg ihre charakteristische Gesetzmäßigkeit und Eigenart bewahren?

Die Wurzeln der Klezmer-Musik liegen im Schwarzmeer-Raum, von wo aus sowohl die abendländische, als auch die orientalische Musik stark beeinflusst wurden.
An dieser Stelle bietet sich – zum besseren Verständnis der Klezmermusik – ein kleiner Exkurs an in die

Geschichte

Nach Zerstörung der jüdischen Königreiche durch Rom vor Christi Geburt folgten immer wieder Aufstände der Juden gegen die Fremdherrschaft der Römer. Diese Befreiungsversuche wurden von Rom immer, oft mit ganz erheblichen militärischen Aufwand, und meist sehr blutig niedergeschlagen. Die Rädelsführer und ihre Familien wurden grausam bestraft. In der Folge flohen in den ersten Jahrhunderten nach Christus immer wieder politische Anführer dieser jüdischen Revolten, die Priester und auch die für Musik verantwortlichen Leviten über die Grenzen des römischen Reiches. Nach Süden führte kein Weg, das Mittelmeer war fest in römischer Hand, ebenso Ägypten. Zur Flucht bot sich daher nur die Landroute über Syrien und Anatolien in den Schwarzmeer-Raum an. In diesem fruchtbaren Gebiet außer der Reichweite Roms entstanden in den folgenden fünf Jahrhunderten viele jüdische Siedlungen, über deren Geschichte wir fast nichts wissen.

Nachdem das Weströmische Reich erst in die Hände der Goten, dann der Langobarden und schließlich der Franken gefallen war, versuchte Byzanz noch mehr als hundert Jahre lang, wieder die Kontrolle über das gesamte römische Reich zurück zu gewinnen. Als dies endgültig gescheitert war, fiel um das Jahr 550 n. Chr. so etwas wie ein „eiserner Vorhang“ zwischen West- und Osteurops. Das barbarisch-germanische Westeuropa wurde durch Byzanz völlig von römisch-griechischer Kultur, Technologie und Wissen abgeschnitten. Das wirkt bis heute nach. Was sich im Osten jenseits des Balkan ereignete, davon wusste man in Westeuropa nichts – und auch in neuester Zeit ist die Geschichte der Länder östlich des byzantinischen Reichs nur ein Spezialthema für wenige Historiker.

Während Karl der Große und seine Nachfolger Westeuropa zu einem zentralistischen Feudalsystem formten und gegen Eindringlinge aus dem Osten sicherten, bildete sich östlich des Oströmischen Imperiums das Riesenreich der Chasaren. Aus heutiger Sicht war dies ein modern anmutender Bundesstaat, der viele autonome Ethnien unter einer gemeinsamen Führung vereinte. Viele slawische Stämme, ebenso Bulgaren und Ungarn waren ursprünglich Teil dieses Staatsgebildes, bevor sie westwärts abwanderten. Im Reich der Chasaren bestanden Religionsfreiheit, Rechtssicherheit und Wohlstand. Die Chasaren kontrollierten den Handel zwischen Byzanz und sowohl dem fernen Osten längs der Seidenstraße als auch in den Ostseeraum. Sie waren gleichrangige Handelspartner ud enge militärische Verbündete Ostroms.Die Führungselite beider Mächte war auch durch Heiraten eng verbunden.


Es gibt viele Legenden und strittige Theorien, warum die Führungsschicht der Chasaren den mosaischen Glauben angenommen hatte und danach über Jahrhunderte behielt. Neuere Forschung der chasarischen Gräber bestätigt, dass jüdische Begräbnisriten in weiteren Bevölkerungskreisen gepflegt wurden, als bisher angenommen. Welche Rolle die jüdischen Gemeinden oder aus diesen entstandene Kleinstaaten im Schwarzmeer-Raum dabei spielten, und wie ihre politische und kulturelle Führung aussah, ist unbekannt.

Die Wiege der Klezmer-Musik im Mittelalter

Wie die Musik der mittelalterlichen jüdischen Spielleute, „lejtsim“ genannt, klang, das wissen wir auch nicht. Aber es steht fest, dass es einen regen kulturellen Austausch zwischen den im Deutschen Reich ansässigen Juden und dem Chasarenreich gab. Bester Beweis dafür ist die „lingua franca“ der Juden Osteuropas, die jiddische Sprache, die sich aus dem Mittelhochdeutschen entwickelte. Die zur Musik genutzten Instrumente wanderten dahingegen von Ost nach West. Dies lässt vermuten, dass die Handelsbeziehungen und die aus ihnen resultierenden Wanderungsbewegungen intensiv in beiden Richtungen erfolgt sind.

Wer sich mit jüdischer Musik beschäftigt, der ahnt, wie sehr sie von diesem historischen Geschehen beeinflusst worden war. Am Schnittpunkt vieler Kulturen wurden im Schwarzmeer-Raum tausend Jahre lang keltische, germanische, slawische, persische, arabische und türkische Elemente in die jüdische Musiktradition aufgenommen. Auf dieser Basis entwickelten um das 15. Jahrhundert „klezmorim“ genannte Volksmusikanten eine typische Form weltlicher, nichtliturgischer jüdischer Musik, die vor allem zur Begleitung von Hochzeiten und anderen Festen diente. Der größte Teil des heutigen traditionellen Klezmer-Repertoires, so auch die Stücke der „libn layte“, wurde im 18. und 19. Jahrhundert in Bessarabien, Galizien und Podolien auf dieser historischen Basis erdacht und tradiert. Wie in den vergangenen Jahrhunderten spielten auch die Klezmer-Kapellen der Neuzeit auf dem Weg zu ihren Auftraggebern zusammen mit lokalen Musikern und tauschten musikalische Themen und Rhythmen mit Bulgaren, Polen, Roma, Rumänen, Türken, Ungarn und Ukrainern aus. Diese gegenseitige Befruchtung führte zu einer sehr vielfältigen und differenzierten Musik, die im 19. Jahrhundert großen Einfluss nicht nur auf die Wiener Klassik von Schubert bis Mahler, sondern auch auf die Entwicklung des Wiener Liedes hatte.

Und wie kam Klezmer-Musik zu uns nach Wien?

Auch an dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs in die Geschichte hilfreich:

Ungarische Reiterscharen stürmten als Eroberer Donau-aufwärts, und wurden erst 955 in der Schlacht am Lechfeld vor Augsburg von Kaiser Otto dem Großen aufgehalten. Der spätere ungarische Großfürst Geisa I. war als junger Krieger mit dabei. Er muss wohl ungeheuer beeindruckt gewesen sein von der Kraft des christlichen Glaubens und vom hohen Niveau der mitteleuropäischen Kultur. Nur 50 Jahre später fand dann die Hochzeit seines Sohnes Stephan, dem späteren Heiligen, mit der Kaiserschwester Gisela statt. Es folgte die jahrhundertelange Zusammenarbeit zwischen dem ungarischem Herrscherhaus und dem deutschen Hochadel. Die Babenberger Herzöge in Wien wohnten „auf halbem Weg“ und waren beiden eng verbunden. Auf dieser Basis begann ein reger Austauch zwischen Zentral- und Osteuropa mit Wien als Drehscheibe. Güter, Menschen, Wissen und Ideen wanderten mit erstaunlicher Mobilität hin und her. Dies begünstigte auch die Einwanderung von Juden aus dem Chasarenreich nach Westeuropa, da sie immer stärker unter dem Druck ihrer Nachbarn im Norden, den Waragäern und der Kiever Rus, sowie zunehender Bedrohung momgolischer Reiterscharen zu leiden hatten.

Ein dramatisches Ereignis verstärkte diese Wanderbewegungen aus Osteuropa noch: Kaiser Alexios I von Byzanz verlor ganz Anatolien an die islamischen Seldschuken. Es begann das Zeitalter der Kreuzzüge. Angehörige aller Gesellschaftsschichten des christlichen Abendlandes zogen auf dem Landweg – der Donau folgend über Wien – nach Kleinasien, meist unter dem Schutz der Ritter, zügig und zielorientiert, um das Heilige Land von den islamischen Eroberern zu befreien. Der Rückweg vollzog sich jedoch unorganisiert und in kleineren Gruppen, auf allerlei Umwegen. Diese enormen Wanderbewegungen lösten geistige, technologische und soziale Umbrüche aus, die in Verbindung mit einer Klimaverbesserung zu einer Agrarrevolution und zur Differenzierung des städtischen Lebens in Westeuropa führten. Nachdem die Katastrophe des Mongolensturms auch das Chasarenreich endgültig vernichtet hatte, und auch Byzanz kein Bollwerk mehr gegen die türkische Invasion war, wanderte die jüdische Bevölkerung nach Rückzug der Mongolen verstärkt aus dem Schwarzmeer-Raum nach Westen. In diesem Umfeld beschleunigte sich während des späten Mittelalters die Öffnung Mitteleuropas nach Osten und damit die Verbreitung jüdischer Kultur bis weit nach Westeuropa hinein.

Unabhängig von diesen Entwicklungen hatten sich drei weitere, lokale Schmelztiegel des Kulturaustausches zwischen Juden und Westeuropäern entfaltet, die nicht nur als Wissensquelle für die kulturelle Entwicklung Zentraleuropas, sondern auch auf die Musik entscheidenden Einfluss hatten: in Polen, im maurischen Spanien und in Sizilien am Hof des Normannen Roger II. , dem Großvater des Deutschen Kaisers Friedrich II. Im Mittelmeerraum arbeiteten arabische, jüdische und christliche Gelehrte zunächst in friedlicher Koexistenz, gefördert von liberalen Machthabern, zusammen. Die Übersetzerschule von Toledo stellte Übertragungen aus dem Arabischen ins Lateinische bereit, so auch viele Rückübersetzungen griechischer Fachliteratur aus arabischen Quellen. Seit der Gründung des Königreichs Polen im 10. Jahrhundert entwickelte sich Polen zu einem der religiös tolerantesten Staaten Europas. Mit dem „Statut von Kalisch“ und seiner Bestätigung durch König Kasimir den Großen im Jahr 1334 erhielten die Juden weitgehende Rechte zugestanden. Polen wurde zur Heimat für eine der größten und vitalsten jüdischen Gemeinden der Welt. Wie stark diese Strategie der polnischen Könige von der historischen Nachbarschaft zum Reich der Chasaren beeinflusst war, liegt im Dunklen.

Die Reconquista führte später zur Vertreibung der Juden aus Spanien, die meist auf dem Landweg nordostwärts emigrierten. Begüterte sephardische Juden wählten den Seeweg nach Amsterdam, sowie über das Mittelmeer in das osmanische Reich, wo sie wegen ihrer Kenntnis westeuropäischer Sprachen und Bräuche und ihrer Leistungen in Wirtschaft und Wissenschaft hohes Ansehen genossen. In der Schlacht von Mohács 1526 gegen die Osmanen verlor Ungarn seine Selbständigkeit. Nachdem aber auch die zweite Belagerung Wiens durch die Türken gescheitert war, wurde die Kaiserstadt Wien, nun auch ungarische Hauptstadt, endgültig zur Drehscheibe zwischen West und Ost. Mit dem schrittweisen Rückzug der Türken kamen danach die Kronländer Galizien, Bukowina und Siebenbürgen ins Habsburgerreich mit ihrem hohen Anteil jüdischer Bevölkerung. Das österreichische Schlesien bildete eine Brücke zu den jüdischen Gemeinden Polens. Zunehmend wanderten auch sepharische Juden aus dem osmanische Reich in die nun österreichischen Städte am Balkan und nach Wien aus. Den Habsburgern konnte diese sephardische Elite wegen ihrer genauen Kenntnis der türkischen Gesetze und Verwaltung und ihrer Wirtschaftskontakte ins osmanische Reich sehr gute Dienste leisten. Damit waren Anfang des 19. Jahrhunderts viele Tore zum Kulturaustausch zwischen Ost und West mit dem Zentrum Wien – auch was Musik anbelangt – weit geöffnet!

Theorie

Dass es sich um Klezmermusik handelt, erkennt man vor allem auch an der Melodieführung.  Die typischen Klezmer-Kadenzen folgen uralten Tonleitern, die wohl in grauer Vorzeit wurzeln, so, wie die griechischen Tonleitern. Dass diese Modi ursprünglich liturgischer Musik dienten, erkennt man an den hebräischen Namen, zum Beispiel „große Liebe Gottes“, oder „Schild der Väter“. Daraus resultieren auch die typischen Klezmer-Harmonien, die – in unseren Ohren –  ständig zwischen Dur und Moll wechseln. Wie in allen Hochkulturen der Vergangenheit wurden Schrift, Mathematik und Musik auch in der jüdischen Kultur als Einheit betrachtet, einander im Kern wesensgleiche Erscheinungsformen ein und derselben göttlichen Ordnung. Ein wahrer jüdischer „Nigun“ ist ein Lied, das dieser höheren Ordnung genügt.

Die meisten westeuropäischen Musiker und Komponisten des 19. Jahrhunderts, soferne sie nicht mit jüdischer Religion vertraut waren, haben wohl nur intuitiv erfasst, dass jüdischer Musik eine höhere Ordnung innewohnt. Vielleicht haben sie diese Ordnung aber auch intellektuell erkannt und für ihre Kompositionen gezielt genutzt. Es ist nur wenigen Musik-Interessierten in Westeuropa bewusst, wie stark der Einfluss jüdischer Musik auch auf die Wiener Klassik und Romantik war. Der Chasan Salomon Sulzer, ein guter Freund von Franz Schubert, Liszt, Meyerbeer, Paganini und Schumann wurde 1825 von der Wiener Gemeinde als Kantor von Hohenems nach Wien berufen. Zeitgenossen berichteten von der spirituellen Kraft und Schönheit seines Gesanges im Gottesdienst. Salomon Sulzer wurde 1844 der erste Professor für Gesang am Konservatorium der Wiener Musikfreunde. Er reformierte mit seinem Werk nicht nur die jüdische Liturgie in ganz Europa, sondern beeinflusste auch die Musik der Romantik bis hin zu Gustav Mahler.

In derselben Zeit entwickelte sich in der Volksmusik das typische Wiener Lied, das bei weitem komplexer und differenzierter aufgebaut ist, als die germanische und slawische Volksmusik der umgebenden Länder. Auch hier wird der Einfluss jüdischer Musiker und Komponisten spürbar, der zu Beginn der dreißiger Jahre seinen Höhepunkt erreichte.

Unser Mentor Isaak Loberan hat in seinen Publikationen die Geschichte jüdischer Musik und deren musiktheoretische Grundlagen erläutert. Besonders ausführlich finden Sie dies in „Klezmermusik aus Moldawien und der Ukraine“ Volume 1, erschienen 2005 bei Varwe musica publication, ISBN -3-9501922-0-4.

Eine Zusammenfassung der „Musik-Theorie“ in englisch finden sie auf dieser Seite.

18.5.2020

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